Brief einer jungen Mutter

 

27.03.2017

 

Maßgeschneidert ...

 

"Was mich die vergangenen Tage beschäftigt ist folgendes:

In unserer Gesellschaft geht es immer wieder um Normen die man einhalten soll, oder aus denen man zumindest nicht herausfallen soll. Man wird begutachtet, vermessen und verglichen, schon die Kleinsten entkommen dieser Schau nicht mehr. Wer Kinder hat weiß, was eine U- Untersuchung ist. Kinder werden anhand von Tabellen altersgerecht verglichen, vermessen, das Gewicht wird begutachtet, der BMI ermittelt, und zu guter Letzt geht es auch um auffälliges Verhalten.

 
Letzteres war bei uns bislang immer unauffällig.

Weder äußerten unsere Kinder bislang Selbstmordabsichten, noch tranken sie heimlich Alkohol, oder rauchten oder stahlen. Bei der Größe und dem Gewicht jedoch befinden sich vor allem meine beiden Mädchen immer an der Grenze nach oben. Dann kommen die Ratschläge, man möge keinen Saft zum täglichen trinken geben, dass Essen soll ausgewogen sein, und natürlich sollen Kinder toben und spielen. Bei fast allem würde ich sagen, wir sind Eltern die auf Gesundheit achten.
Zum Trinken gibt es ausschließlich Wasser, und nur an Geburtstagen gibt es Saft. Gegessen wird alles, und im Prinzip würde ich sagen, meine Mädchen haben an allem Gefallen. Spielen und toben dürfen sie- aber in Mietshäusern ist das so eine Sache. Toben ist wichtig- aber Bitteschön leise!
 

Ratschläge die uns Eltern nahelegen, Kinder sollen weder zu dick noch zu dünn,

weder auffallend groß noch klein sein, kommen- und ich als Mutter stehe mittendrin und mache mir Gedanken. Ich, mit zwei großen und eher schweren Mädchen, stehe da und überlege was zu tun ist. Und mich macht es traurig und wütend zugleich, denn eigentlich liebe ich meine Kinder genauso wie sie sind. Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass jeder Mensch anders ist, und dass es gut ist so zu sein wie man ist, wenn man sich wohl fühlt.

 

Kim kam heute zu mir um mich zu fragen ob sie denn nicht bald eine Zahnstange braucht, da ein Zahn der durchstößt etwas schief wirkt!!! Ich stand erst einmal verblüfft vor diesem Satz. Nein, meinte ich, deine Zähne wachsen doch erst! Und schau meine Zähne an, da gibt es schiefe und nicht ganz gerade, aber dein Papa liebt mich vor allem auch gerade deshalb. Er mag meine Zähne - gerade weil sie nicht alle so sind wie die Allgemeinheit sie sich vorstellt.


Vor Jahren meinte eine Mutter aus dem Kindergarten zu mir, dass es für eine Korrektur nie zu spät ist- und ich glaube sie war entsetzt, dass ich mir keine Gedanken um meine Zahnstellung mache. Tilli hingegen hört oft, wie groß sie ist. Ja, diese Tatsache ist richtig, aber keiner sagte bislang zu ihr, dass das in Ordnung ist. Kim hört, dass sie aber schwer für ihr Alter sei, Leander sehr dünn. Dorian viel zu korpulent- wenn er aber anpacken soll, ist alles vergessen und man hört wie toll es sei, das er stark ist.

 

 

..., angepasst und normgerecht

 

Mich macht es sprachlos wohin wir mit unserem Wunsch nach Angepasstheit hinsteuern. Im Prinzip denke ich, dass ich mir über Äußerlichkeiten bislang wenig Gedanken gemacht habe. Früher war ich dünn, heute bin ich dicker, meine Zähne sind krumm, mein Bauch fülliger. Ich habe Krampfadern, Zellulitis, mein Haar wird dünner und außerdem grau! Und? Mein Augenmerk lag bislang auf dem wie ich mich fühle. Wie gerne würde ich mehr Menschen kennen, die mich, meine Kinder, meinen Mann, sich selbst so akzeptieren wie sie sind! Hübsch habe ich mich weder jemals gefunden oder dorthin gewünscht, aber ich fühlte mich oft einfach wohl in meiner Haut. Ich ernähre mich vielseitig, es gibt Dinge die sehr gesund sind, aber sicher auch Dinge die ungesund sind.

 
Würde ich heute erfahren, dass ich morgen sterbe, da ich zum Beispiel Lungenkrebs hätte, wahrscheinlich würde ich denken: Mist die Zigaretten könnten schuld sein, aber ich würde das Gefühl der Freude dennoch spüren, das ich hatte, wenn ich rauchte. Ich tue täglich Dinge die mir guttun und Dinge die schlecht sind- und doch genieße ich beides. Ich fühle mich nicht gegeißelt von mir selbst.

 

Viele Menschen finden vegan leben gerade attraktiv und gut - ich tue es nicht und fühle mich eigentlich nicht schuldig deshalb. Meine Familie ist großartig, nicht, weil sie perfekt ist, sondern weil wir uns jetzt und hier wohl in unserer Haut fühlen.

 

Ich würde unseren Kindern gerne vermitteln, dass sie so wie sie sind toll sind. Die eine zu groß für ihr Alter, die andere zu schwer für ihr Alter, der eine sprachfaul für sein Alter, die andere durchschnittlich.

Wie schön ist es zum Beispiel gerade, und wahrscheinlich klingt das als billige Ausrede oder Rechtfertigung, dass Kim nun beinahe eine Woche nichts isst, und ich mir keine Angst deshalb zu machen brauche! Sie verhungert nicht so schnell. Wie toll ist es groß zu sein mit bald sechs Jahren und dennoch klein sein zu dürfen? Wenn Tilli ins Kino wollte, was sie noch nie war, sie käme rein...alles hat auch seine Vorteile.

 

 

Glücklich sein so wie man ist

Ja, meine Kinder sind so wie sie sind. Ich stehe oft vor ihnen und denke, was für ein süßes pralles Bäuchlein, oder was für ein putziger Hintern. Ich streichle Leanders dünnen Bauch und finde auch an so was Filigranem Gefallen! Es macht mich schmunzeln, wenn ich daran denke, dass Mimi vielleicht in einigen Monaten besser spricht als Leander, denn ich weiß ja, dass er reden kann und es bislang einfach nicht will. Es ärgert mich manches Mal, dass er noch nicht wie seine Schwester in dem Alter aufs Klo geht, aber in mir drinnen genieße ich es auch noch einen kleinen Hosenkacker zu haben. Er wird es lernen- und ich spüre, dass alles okay ist.

Wenn meine Mädchen zu mir kommen und fragen ob sie nicht normal sind, bin ich entsetzt, denn alleine die Angst von ihnen, sie könnten nicht normal sein, ist nicht normal. Wenn ich auf die Straße schaue ist kein Mensch wie der andere, und genau das ist das Tolle!
Neulich sprach ich ein paar Worte mit einem geistig behinderten Menschen- und was er sagte war schlicht und ergreifend richtig! Er wollte wissen ob Geld oder Liebe wichtiger sei? Ein anderer Passant meinte, ohne Geld ginge nichts! Ich war anderer Meinung. 

 

Ein anderes Mal  kam ein Bettler durch den Zug gestapft und fragte nach dreißig Cent. Ich hatte kein Geld dabei und so zog er weiter. Eine Frau neben mir meinte erbost, dass er sicher nur für Alkohol bettelt. Ich erwiderte nur, dass er sehr angenehm roch- und selbst, wenn das nicht so gewesen wäre...was dürfte ich mir anmaßen über ihn zu urteilen? Es ist meine Sache ihm was zu geben oder nicht, und es ist seine Sache, das damit zu tun was er will.


Ich liebe die Menschen um mich herum gerade deshalb, weil sie einzigartig sind. Wenn sie etwas an sich verändern wollen- ok, dass dürfen sie, aber mir selbst ist es wichtig, ob sie es ihretwillen wollen. Meine Kinder fragten sich lange Zeit überhaupt nicht ob sie richtig sind oder nicht- aber jetzt fängt es an Thema zu sein. Was ist aber richtig?

Ich denke ich habe mich nun etwas verzettelt- aber mir war es heute wichtig darüber zu schreiben. Ich liebe meine Kinder, meine Familie und meine Freunde genauso wie sie sind. Und diese Liebe fühlt sich einfach richtig an. Ich möchte ungern jemanden verändern nur, weil er nicht in eine Norm passt. Meine Kinder sind so wie sie sind, und ich weiß, dass ich nichts grob Fahrlässiges tue. Ich hoffe, sie wachsen so auf, dass sie sich so annehmen wie sie sind, und mein einziger Wunsch in diese Richtung ist, sie in ihrem Sein zu bestätigen.