Kindheit

Werdegang vom kleinen Kniddlchen

 

 

Meine Kindheit war einfach wundervoll. Ich hatte wundervolle Eltern, denen die unberechenbare Sprunghaftigkeit meiner Interessen sicherlich nicht ganz geheuer war, die mir aber dennoch freie Hand ließen, was in den sechziger Jahren ganz sicher keine Selbstverständlichkeit war. 

 

Damals steckten die Schrecken des Krieges noch in den Knochen der Menschen und jeder ging auf seine Weise damit um. Meine Eltern hatten ihre Erfahrungen in Dankbarkeit umgewandelt. Beide waren unglaublich dankbar für alles, was sie erreicht hatten - gerade weil sie Zeiten im Krieg erlebt hatten, in denen sie nicht sicher sein konnten, den nächsten Tag zu erleben.

 

Ich habe zahllose glückliche Erinnerungen an meine frühen Jahre. An meine Mutter und ihre Liebe zu uns und ihre Freude an unserem Zuhause, unserem Garten, am Wachsen und Gedeihen der Pflänzchen, an den Kaninchen und Hühnern (ihren 'Damen'). Sie war immer mit irgendetwas beschäftigt und nach ihrer Arbeit im Weinberg, Haushalt und Garten hat sie genäht und gestrickt - für uns alle, auch für meine Puppen.

 

Anfang der 60er hatten wir noch keine große Technik, keinen elektrischen Herd oder vollautomatische Waschmaschine, keine Zentralheizung und kein fließendes warmes Wasser, auch Fernseher bekamen wir erst später. Meine Mutter wusch die Wäsche noch im Bach hinter unserem Haus und im Herd in der Küche musste erst das Feuer entfacht werden. Ich war zwar noch klein, aber ich kann mich gut daran erinnern, dass es damals all das, was uns heute so selbstverständlich ist, einfach noch nicht gab. Und doch hatten wir alles was wir brauchten und für mich gab es keinen schöneren Ort als zuhause.


Heißgeliebtes Väterchen

 

Ich war ein Pappi-Kind, obwohl ich natürlich auch meine Mammi abgöttisch liebte. Aber wenn ich bei meinem Vater auf dem Schoß saß, strahlte ich immer über das ganze Gesicht. Nur dass er nie zuhause war wenn der Nikolaus kam, fand ich echt blöd. Dass er selbst in dem Nikolauskostüm steckte, das meine Mutter selbst genäht hatte, konnte ich ja nicht wissen.

 

Mein Vater schien einfach alles zu können. Er hat unser Haus fast im Alleingang gebaut (trotz 48-Stunden-Woche) und erledigte auch alle Reparaturen selbst. Nur beim Dach und für Arbeiten mit Strom holte er sich Hilfe, den Rest hat er alleine geschafft. Die nötigen Maschinen für den Hausbau (Bagger, Raupe usw.) konnte er sich bei der Firma ausleihen, bei der er arbeitete. Beim Bau des Cochemer Tunnels führ er den Kran, um sich unser Häuschen leisten zu können. Meine Mutter erzählte mir später, dass dieser Kran während eines Unwetters kippte und mit meinem Vater in die Mosel stürzte. Glücklicherweise blieb er nahezu unverletzt, was ein kleines Wunder war - die Zeitungen waren voll davon. Es gab keine Maschine, die er nicht fahren konnte, in jungen Jahren flog er sogar Segelflugzeuge.

 

 

Als unser kleines "Hexenhäuschen" fertig war, baute er noch die fehlenden Möbel und auch das konnte er richtig gut. Die niedrigen Schränke in unserem Wohnzimmer waren Maßarbeit und eine Klappe konnte man so einstellen, dass wir unsere Hausaufgaben darauf erledigen konnten. Dazu passend gestaltete er wunderschöne Bilder aus Holz und Metall und ein großes aus zahllosen Streichhölzern.

Gegen die damals übliche eher dunkle Wohnzimmereinrichtung mit Schrank, Couch, Sessel und Tisch war dieses helle und weiträumig eingerichtete Zimmer schon etwas Besonderes.

 

Wir Kinder hatten ein riesengroßes Kasperletheater und ich als Mädchen bekam an Weihnachten eine bezaubernde Puppenstube und ein Jahr später ein reizendes kleines Kleiderschränkchen für meine Puppenkleider, das ich bis heute in Ehren halte. Sogar für die passenden kleinen Kleiderbügel hat er gesorgt und an ihnen hingen die schönsten Puppenkleider, die meine Mutter genäht hatte.

 

Im Garten hatten wir eine Schaukel mit einem richtigen Sitz, aus der nicht einmal das kleine quirlige Kniddlchen herausfallen konnte und am Bach hinter dem Haus drehten sich zwei funktionierende Wasserräder neben einer Art Anlegesteg für das große Schiff, das mein Bruder zu Weihnachten bekommen hatte.

 

Unsere Hühner wohnten in einem todschicken Backsteinhaus mit allem Pipapo für die Tiere, denen es bei uns an nichts fehlte. Irgendwie bekam er einfach alles hin und es ist mir bis zum heutigen Tag ein nicht enden wollendes Rätsel, wie er das alles geschafft hat.

 

Später baute er noch einen Schreibtisch, an dem man zu zweit arbeiten konnte und schmiedete einen wunderschönen Elch, der fast die halbe Hauswand bis zum Giebel ausfüllte. Hirsche und Rehe hingen damals an vielen Häusern, aber dieser 'ostpreußische Elch' war zum einen sehr naturnah und wirkte auch ziemlich erhaben, wie er da unter den Tannen stand. Ein kleines Stück seiner verlorene Heimat in Ostpreußen, über die er ansonsten kaum sprach. Und obwohl ich dieses Land nie gesehen habe, liebe auch ich die weiten Himmel des Nordens,unter denen ich mich heute zuhause fühle. Natürlich ist das hier nicht Allenstein, aber die unendliche Weite des Himmels ist der gleiche.

 

 

 

Je länger ich darüber nachdenke, umso bewusster wird mir, dass er ein echtes Ausnahmetalent war.  Lange Zeit habe ich vermutet, dass ich meine Erinnerungen leicht euphorisch ein bisschen zu bunt ausgemalt hatte, aber jetzt wird mir bewusst, dass er (und auch meine Mutter) noch um einiges außergewöhnlicher war als ich annahm.

 


Die beste Mammi der Welt

 

Wie mein Vater war auch meine Mutter eine echte Ausnahmeerscheinung.

Sie war alles andere als konventionell und trug als erste Frau in unserem Dorf und der ganzen Umgebung Hosen statt Kleidern, Röcken oder Schürzen. Und 1958 kletterte sie als Ehefrau und Mutter eines kleinen blonden Jungen mal eben den Maibaum hoch. Dass sie damals mit mir schwanger war, wusste sie noch nicht, aber es hätte wohl auch keinen Unterschied gemacht.

 

Sie mochte Menschen und fühlte sich auch wohl unter ihnen, aber sie rannte keiner Herde hinterher. Sie machte ihr eigenes Ding und das, was sie für richtig hielt, völlig egal, was andere dachten. Und wie unser Pappi hat sie es nichts groß gepredigt, sondern uns vorgelebt, was ihr wichtig war.

 

Im Herzen war sie eine Künstlerin, die Akkordeon spielte und wundervoll malen konnte. Ihre mit Öl oder Kohle gemalten Bilder hingen überall in unserem Dorf und wenn ein größeres Ereignis anstand, wurde sie nicht selten gebeten, ein Bild als Geschenk zu malen. Sie hatte auch eine wunderschöne Stimme und liebte es zu singen und zu lachen.

Sie war ziemlich temperamentvoll und konnte natürlich auch schimpfen wie ein Rohrspatz, aber das war nie wirklich ernst und genau so schnell vorbei wie es gekommen war. Meistens war sie gut drauf und wir wussten genau, wo sie gerade am werkeln war: Immer da wo der Gesang herkam.

 

 

Als ich noch klein war, ließ sie sich an meinen Geburtstagen die verrücktesten Spiele für drinnen einfallen, weil das Wetter im November nicht für Spiele wie Eierlaufen, Sackhüpfen, Völkerball oder Räuber und Gendarm geeignet war.

 

Das Größte für uns war der "Buh-Mann". Dafür dunkelte sie das ganze Haus gründlich ab und nach dem wir uns versteckt hatten, schaltete das Licht aus. Und dann hörten wir ein tiefes "Buuuuhuuu"-Gebrumm, das immer näher kam. Und aus den Verstecken glucksten wir Kinder in heller Aufregung - bis sie eines fand und ein ohrenbetäubendes Gequieke ertönte, das ich noch heute im Ohr habe. Der "Buh-Mann" war zwar ein total simples Spiel, aber er machte meine Geburtstagsfeste für meine Freundinnen zum Highlight des Jahres.

 

Am besten konnte sie erzählen. Dabei war es völlig egal, was sie erzählte. Ob sie z.B. ein Märchen oder etwas über das Weltgeschehen erzählte, ich war jedes Mal gefesselt von ihrer Art des Erzählens. Das galt aber genau so für meinen Bruder und auch für unsere Freunde bzw. Freundinnen. Sie wusste unglaublich viel über alles mögliche, aber es war vor allem ihre lebendige Art des Erzählens, die mich so in den Bann zog, dass man ihr einfach zuhören musste. Wenn sie etwas erzählte, saßen alle um sie herum und lauschten.

 

Sie erzählte von den Pflanzen und den Tieren, von den Käferchen, dem Maulwurf, Bienen, Hummeln und Schmetterlingen, es gab irgendwie nichts, von dem sie nichts erzählen konnte. Am spannendsten fand ich ihre Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend und ihre Erlebnisse im Krieg. Es wurde alles lebendig, vieles war lustig (welches Kind fällt heutzutage noch aus dem Fenster in ein Regenfass und bleibt muxmäuschenstill, damit keiner etwas merkte *ggg*) manches schaurig - wenn sie z.B. von den Sirenen bei Fliegeralarm erzählte oder von der Flucht mit dem Bollerwagen, während die Bomber über sie flogen oder von den beängstigenden Märschen von Gefangenen oder Zwangsarbeitern, die aussahen wie wandelnde Tote.

 

Es war nicht so, dass ich mich gefürchtet hätte, ich war ja sicher und geborgen. Dennoch Fühlte es sich so an, als sei ich mitten drin in dem Geschehen. Als könne ich die Gerüche riechen, die Geschütze hören und das Elend sehen, weil ihre Erzählungen so lebendig und echt waren. Ich habe es jedenfalls total geliebt, wenn sie etwas erzählte und ich mich behaglich mit einer Decke an sie kuscheln konnte, während die Holzscheite im Ofen knisterten und Regen an die Fenster prasselte. Je ungemütlicher es draußen war, umso kuschliger fühlte ich mich drinnen (das kennen wahrscheinlich die meisten).


So etwas war damals höchst unüblich, aber es war ihr egal, was "man" machte, sie tat, was sie für richtig hielt - und darüber diskutierte sie auch nicht. Die einzige Situation, in der das anders war, lässt mich noch heute schmunzeln.

 

Es ging um meinen Bruder, der damals ein Teenager war und sich einen Spaß daraus machte, "freihändig" vor dem Klo stehend zu pinkeln. Damals setzte sich noch kein männliches Wesen zum Pinkeln auf die Toilette, aber dass die Übung mit dem "freihändig" zu einer ziemlichen Schweinerei führte, die meine Mutter immer wegputzen musste, dürfte sich jeder ohne große Mühe vorstellen können.

 

Und so kam, was kommen musste: Eines Tages platzte ihr der Kragen und sie rief erbost "Mä pisst wie de Lait, da geht et ähm wie de Lait!" (Man pinkelt wie die Leute, dann gehts einem wie den Leuten) - wortwörtlich, ich höre es noch heute als wäre es gestern gewesen. Dass sie es selbst war, die danach am lautesten darüber lachte, muss ich nicht extra erwähnen - so war sie eben.

 

 

Auf die gleiche Weise weckte sie auch mein Interesse für Jesus, ihrem innig geliebten "Herrgott". Von Klerus, Kurie und dem ganzen steifen Brimborium hielt sie herzlich wenig und brachte mir das Wissenswerte lieber mit ihren Worten und auf ihre einzigartige Weise bei.

Sie hat mich nicht in Andachten gescheucht, in denen man still sitzen musste (was mir extrem schwer fiel), sondern hat mir Geschichten von ihm erzählt und sie hat uns vor allem vorgelebt, was ihm wichtig war: Mitgefühl, Menschlichkeit, Liebe und Verzeihen und ihre Freude an den Wundern der Natur. Und manchmal nahm sie mich mit in die leere, stille Kirche, in der ich mich total behaglich fühlte. Dann musste ich nicht stillsitzen wie in der Sonntagsmesse, sondern durfte mich bewegen und überall hin, um die wunderschönen Bilder und Statuen zu bestaunen. Sie hob mich auch manchmal hoch, damit ich all dies auch berühren konnte und erzählte mir währenddessen mit ihren Worten alles, was ich wissen wollte. und ich wollte immer ziemlich viel wissen.

 

Natürlich merkte ich früh, dass es da so einige Widersprüche gab und ich erinnere mich, dass ich heiße Diskussionen mit Mitgliedern aus dem Kirchenrat führte, als ich noch die Grundschule besuchte. In gewisser Weise nahmen mich diese Erwachsenen ernst (mehr oder weniger), aber keiner vermochte mir Antworten zu geben, die mir genügten. Es sollten 4 Jahrzehnte dauern, bis ich meine Suche nach diesen Antworten wieder aufnahm und mir die Antworten im Laufe der Zeit selbst geben konnte. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Damals dachte ich natürlich, dass all dies völlig normal sei - ich kannte ja nichts anderes.

Erst im Rückblick merkte ich nach und nach, dass ich unfassbares Glück mit meinen Eltern hatte. Gerade bei etwas clevereren Kindern ist es nämlich gar nicht so leicht, ihrer unstillbaren Neugier gerecht zu werden. Und wenn es dann noch in Richtung Vielbegabung geht und das Interesse oft Sprünge machte, die für andere kaum nachvollziehbar sind, wirds noch schwieriger.

Mit meiner Sprunghaftigkeit hatte meine Mutter schon ein bisschen zu kämpfen, denn wir badeten ja nicht in Reichtum. Und wenn sie mir gerade wieder einen Wunsch erfüllen konnte, war mein Interesse wieder auf ein neues Ziel gerichtet. Ich höre sie noch heute sagen "Wie der Wind dreht sich mein Hut."

 

Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, war ich auch noch ein ausgesprochener "Zappelphilipp", was man heute eher als hyperaktiv kennt. Aber das war damals alles noch kein Thema und in meinem Fall war das auch gut so. Ich hatte ja alles was ich brauchte, vor allem hatte ich Eltern, die mich so sein ließen wie ich eben war. Und umso bemerkenswerter finde ich, wie meine Eltern all das bei ihrem Arbeitspensum zu meistern wussten. Schließlich war ich ja nicht ihr einziges Kind und wenn ich die lang ersehnte Prinzessin war, dann war mein Bruder so etwas wie der Kronprinz - wir wurden ja beide so geliebt.

 

Doch, ich hatte eine wundervolle Kindheit und großartige Eltern. Dadurch hatte ich eine Basis, die mir oft aus den dunkelsten Tiefen meines Lebens half. Wäre Dankbarkeit ein See, würde ich blubbern.

 


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