Kraft und Stärke
»Pferde stehlen ist Kraft stehlen« sagte man häufig im alten Amerika, und man bekundete damit die Hochschätzung, die das Pferd in der
indianischen Kultur genoss.
Das Pferd steht zugleich für physische Kraft und unirdische Macht. Überall in der Welt, wo es schamanische Traditionen gibt, steht das
Pferd für die Macht des Schamanen, sich in die Lüfte zu erheben und zum Himmel zu gelangen.
Als die Menschen das Pferd zähmten, war das ein gewaltiger Entwicklungsschritt für die Menschheit, vergleichbar der Entdeckung des
Feuers. Vor jener Zeit waren die Menschen erdgebundene, schwerbeladene und langsame Kreaturen. Vom Moment an, wo sie auf den Pferderücken kletterten, wurden sie frei und geschwind wie der Wind.
Sie konnten nun große Lasten mit Leichtigkeit über weite Strecken tragen. Durch ihre ganz besondere Beziehung zum Pferd veränderten die Menschen ihr Selbstverständnis in einem bis dahin
unerhörten Ausmaß. Das Pferd war die erste Tier-Medizin der Zivilisation. Die Menschheit ist dem Pferd für die neue Medizin, die es gebracht hat, in einem Maße Dank schuldig, die jenseits aller
Messbarkeit liegt. Wenn das Pferd den Menschen auf seinem Rücken nicht angenommen hätte, müssten wir weit laufen, um unsere Brüder und Schwestern zu sehen. Noch heute drücken wir, in Erinnerung
an die Zeit, in der das Pferd des Menschen hochgepriesener und geehrter Partner war, die Kraft eines Motors in Pferdestärken aus.
Traumwanderer, ein Medizinmann, wanderte einmal über die Steppe, um das Arapaho- Volk zu besuchen. Er trug die Pfeife bei sich, und
seine Feder, die in seinem langen schwarzen Haar steckte, zeigte nach unten zum Zeichen, dass er ein Mann des Friedens war. Am Fuß eines Hügels bemerkte Traumwanderer, wie eine Herde wilder
Präriepferde auf ihn zu galoppierten. Schwarzer Hengst kam auf ihn zu und fragte ihn, ob er auf seiner Reise eine Antwort suche. Schwarzer Hengst sagte: »Ich komme von der Leere, wo die Antwort
wohnt. Reite auf meinem Rücken und lerne die Macht kennen, die darin liegt, in Dunkelheit einzutreten und Licht zu finden.« Traumwanderer dankte Schwarzem Hengst und versprach, ihn in der
Traumzeit aufzusuchen, sobald er seine Kraft brauchte.
Als nächster näherte sich Gelber Hengst und bot an, Traumwanderer nach Osten zu tragen, dorthin, wo die Erleuchtung lebt.
Traumwanderer könne die Antworten, die er dort finden werde, anderen weitergeben und so zu ihrer Erleuchtung beitragen. Traumwanderer bedankte sich wieder und sagte, er werde auf seiner Reise
bestimmt von diesen Geschenken der Kraft Gebrauch machen.
Jetzt näherte sich Roter Hengst. Er bäumte sich verspielt auf und erzählte von dem Vergnügen, das darin liegt, Arbeit und gewichtige
Medizin mit der frohen Erfahrung des Spiels auszugleichen. Er erinnerte Traumwanderer daran, dass es leichter ist, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer für wichtige Mitteilungen zu fesseln, wenn
man immer wieder Humor einfließen lässt. Traumwanderer dankte ihm ebenfalls und versprach, das Geschenk der Freude nicht zu vergessen.
Traumwanderer näherte sich seinem Bestimmungsort. Das Volk der Arapaho war nicht mehr weit entfernt. Da kam Weißer Hengst an die Spitze
der Herde. Traumwanderer stieg auf seinen Rücken. Weißer Hengst war der Träger der Botschaften von allen anderen Pferden und stand für die zur Macht gelangten Weisheit. Dieses wunderbare Pferd
war die Verkörperung des ausgewogenen Medizin-Schilds. »Kein Missbrauch von Macht wird jemals zu Weisheit führen«, sagte Weißer Hengst. »Du, Traumwanderer, hast diese Reise unternommen, um einem
Bruder zu helfen, die heilige Pfeife mit ihm zu rauchen und Mutter Erde zu heilen. Aus deiner Demut heraus hast du das Wissen, dass du ein Instrument des Großen Geistes bist. So wie ich dich auf
meinem Rücken trage, trägst du die Sorgen der Leute auf deinem. Voller Weisheit hast du verstanden, dass Macht nicht leichthin vergeben wird, sondern eine Auszeichnung derjenigen ist, die bereit
sind, auf ausgeglichene Weise Verantwortung zu übernehmen. Traumwanderer, der Schamane, ist durch den Besuch der wilden Pferde geheilt worden, und er wusste, dass der Zweck seines Besuchs bei
den Arapaho darin bestand, ihnen diese Geschenke weiterzugeben.
Um die Kraft des Pferd zu begreifen, müssen Sie versuchen, ein ausgewogenes Medizin-Schild zu haben. Wahre Macht liegt in der Weisheit,
die sich an die ganze Reise erinnert. Weisheit kommt auch von den Wegstrecken, die Sie in den Schuhen von anderen zurückgelegt haben. Mitgefühl, Fürsorge, Lehren, Liebe, Schenken, Teilen sind die
Tore zur Kraft.